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Virtuelle Kunstführung für Augen, Ohren und Hände – ein besonderes Format einer Videokonferenz

Finger tasten ein Reliefbild. Kädet koskettelevat kohokuvaa.
Foto: Dr. Susanne Buchner-Sabathy

Manchmal hat man so richtig Glück. Ich hatte das Glück, Eeva Rantamo kennenzulernen. Im April 2021 leitete sie eine Online-Fortbildung zum Thema “Bibliotheken – Einladung an alle”, die der Büchereiverband Österreichs seinen Mitgliedern anbot, und lud mich ein, in diesem Rahmen die Perspektive von Menschen mit Behinderungen zu vertreten. Es war eine schöne Zusammenarbeit und wir blieben in Kontakt. Im November 2021 lud mich Eeva zu einer gemeinsamen virtuellen Veranstaltung des Deutsch-Finnischen Vereins für inklusive Kulturarbeit und des Vereins Andersicht ein. Am Programm stand eine Online-Tastführung für blinde Menschen – ein ziemlich gewagtes Experiment, wie ich damals meinte.

Das besondere Format wurde von dem Mathematikstudent Niels Luithardt – er ist blind und Mitglied des Vereins Andersicht – und dem Kunstvermittler M. A. Philipp Schramm entwickelt.  

Geplant war ursprünglich die taktile Betrachtung zweier Gemälde, und die blinden Teilnehmerinnen erhielten vorab per Mail zwei Vorlagen für 3D-Druck zugesandt. Zudem war vorgesehen, dass wir an dem Zoom-Treffen mit zwei Kameras teilnehmen sollten: der PC- oder Laptop-Kamera fürs Gesicht und der Smartphone-Kamera für die tastenden Hände. Ich wollte die Führung aber lieber im Wohnzimmer als im Arbeitszimmer genießen und verwendete deshalb nur das Smartphone, dessen Kamera ich mit einem Stativ zunächst auf mein Gesicht und dann, während  der Führung, auf meine Hände richtete. Hat prima geklappt!

Bevor ich nun vom Tast- und Kunsterlebnis erzähle, muss ich noch eine Besonderheit dieses Abends hervorheben. Etwas, was mich als Sprachwissenschaftlerin sehr beeindruckt und gefreut hat. Die Veranstalter*innen waren der Ansicht, dass die Begegnung mit Kunst etwas so Intimes ist, dass die Teilnehmenden nicht  – wie bei anderen Online-Veranstaltungen des Vereins –  die Lingua franca Englisch benutzen sollten, sondern alle ihre eigene Muttersprache sprechen konnten. Alles wurde von zwei der Gastgeberinnen ins Finnische bzw. Deutsche übersetzt. 

Zunächst ging es nun darum, dasjenige der beiden 3D-Objekte zu erkennen, mit dem wir beginnen wollten. Das erwies sich als recht einfach, denn eins der etwa handtellergroßen Tastobjekte war rechteckig,  das andere rund. Wir nahmen das rechteckige zur Hand, und   dann standen wir vor derselben Aufgabe, vor der alle Personen stehen, wenn sie einen Braille-Ausdruck zur Handnehmen: wir mussten herausfinden, wo oben und wo unten ist. Mit Philipps Beschreibung und Unterstützung war auch das möglich. Am äußeren Rand des Objekts gibt es einen kleinen Zapfen, der muss rechts oben sein, dann liegt das Gemälde richtig rum vor mir.

Dann begann eine Erkundungsreise, die für mich – obwohl ich oft in Museen bin und schon viele Kunstwerke als Tastobjekte kennenlernen durfte, Unerwartetes gebracht hat. Mit Philipps aufmerksamer  Begleitung erkundeten wir das Tastobjekt. Wir begannen am rechten oberen Eck folgten tastbaren Linien bis zu einem Bereich, von dem er uns sagte, es sei ein Kopf, spürten Haarsträhnen, zarte Linien für Mund und Augen, folgten Schulter und rechtem Arm bis zur Armlehne eines Fauteuils, fanden folgtem dem rechten Unterarm bis zu den im Schoß gefalteten Händen, kehrten dann entlang des linken Arms zurück zur linken Schulter, dem Kragen des Kleides, dem Gesicht. Hierauf wurde der Hintergrund des Bildes erforscht, der mit fantastischen und exotischen Motiven geschmückte Wandbehang, der nicht in allen Details, aber in charakteristischen und gut fassbaren Einzelheiten dargestellt war.

Wann immer wir unsicher waren, ob wir an der richtigen Stelle tasteten, konnten wir Rückmeldung von Philipp bekommen. Unterfüttert wurde die Reise über das Bild von Beschreibungen der Farben und Muster der einzelnen Bildflächen und -linien. Auch hier konnten wir jederzeit rückfragen. Für mich war sehr beeindruckend, wie sich durch dieses lineare Vorgehen, dieses geführte und begleitete Erkunden vor meinem inneren Auge ein Bild formte, fast ein bisschen so, wie ein Blick über ein Gemälde schweift, wenn auch natürlich viel langsamer und natürlich auch nicht in dem Detailgrad, der im visuellen Erfassen möglich ist. Dennoch war diese taktile Erkundung und das damit einhergehende Entstehen einer visuellen Vorstellung prickelnd und befriedigend zugleich. Es war ein echtes, bewegendes Kunsterlebnis. Der Umstand, dass jede von uns sich die ganze Zeit mit einem eigenen Tastobjekt beschäftigen konnte, ermöglichte eine Versenkung, die nicht erreicht werden kann, wenn bei einer Tastführung mehrere blinde Personen darauf warten, ein Tastobjekt – oder ein Stückchen davon – erkunden zu dürfen.

Was wir da ertasteten und erkundeten, war ein Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner. Eines der Bilder von Lina Franziska Fehrmann, genannt “Fränzi”, dem jüngsten Modell der Künstlergruppe “Brücke”. Nach der Tastführung recherchierte ich zu “Fränzi” und stieß u.a. auf Diskussionen zu der Frage, inwieweit das Kindermodell auch Missbrauch ausgesetzt war. Die Frage ist ernst und wichtig, dennoch  bin Ich froh, dass ich das Bild ohne dieses Hintergrundwissen erkunden und ihm als beeindruckendem Kunstwerk begegnen durfte.

Das tastende Erforschen, die Fragen und der Austausch in der Gruppe war sehr inspirierend. Die Zeit reichte nicht für das zweite Gemälde. Aber die Begegnung mit diesem Bild eines jungen Mädchens, das mir ruhig, zurückgezogen und in dieser Zurückgezogenheit respektiert und wertgeschätzt zu sein schien, war unglaublich berührend. Ich danke Nils für seine geniale Idee und Philipp für die hervorragende Begleitung . Wir waren geografisch weit voneinander entfernt, und doch teilten wir eine intime Kunsterfahrung.

Ja – manchmal hat man eben richtig Glück.

Text: Dr. Susanne Buchner-Sabathy, Wien

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